WERTE ODER TOD?
Klingt sehr übertrieben, doch die Geschichte vom Säbelzahntiger zeigt anschaulich die wahre, ursprüngliche Bedeutung der Werte. Diese Geschichte ist witziger Weise jene, an die sich fast alle Leute in meinen Coachings oder Workshops erinnern, auch wenn ich sie erst viele Jahre später wieder treffe. Vielleicht ob der Tatsache, wie ungeniert sie uns vor Augen führt, was Werte wirklich sind, wie leicht es ist, ihnen untreu zu werden, warum ohne Werte nie herausragende Zusammenarbeit entsteht, wie leicht Teams zerbrechen können, usw.
Wenn du dich traust, nehme ich dich mit – auf eine außergewöhnliche, abenteuerliche Reise.

Hast du starke Nerven? Der Säbelzahn naht...
Komm kurz mal mit und pack deinen Delorean ein. Zur Veranschaulichung des Nutzens von Werten gehen wir 20.000 Jahre in der Geschichte zurück. Stell dir einfach vor, wir sind mit drei anderen Stammesmitgliedern unterwegs, durchstreifen schönes Grasland, um ein paar Beeren zu sammeln. Es verlangt uns nach ein wenig Nachtisch fürs Abendessen. Vielleicht sind wir auch Vegetarier, weil wir total progressive Urmenschen sind – wer weiß das schon? Jedenfalls erwarten wir keine Probleme und sind mit nichts außer unserem Lendenschurz „bewaffnet“ unterwegs.
Wir gehen gut gelaunt durch eine Ebene, deren lange Gräser im sanften Licht des Spätnachmittags wogen. Dabei grölen wir munter vor uns hin und bewundern, wie schön sich der Wald vor uns an die Wiesen schmiegt. In diesem Moment tritt ein riesiger Säbelzahntiger aus diesem Wald heraus. Die Schönheit der Szenerie zerfließt in der Flut des einströmenden Adrenalins. Die Angst legt ihre eisernen Arme um unseren Brustkorb und schnürt uns die Luft ab. Jedem in der Gruppe ist klar, dass wir diesem gewaltigen, kraftstrotzenden Tier nichts entgegenzusetzen haben – sollte es uns entdecken. Im Titelbild sieht man schön, wie gewaltig die Säbelzähne in Relation zum Tigerkopf waren.
Instinktiv bleiben wir stehen und gehen hinter etwas höheren Sträuchern in Deckung. Da streckt der Säbelzahntiger die Nase in die Luft. Langsam dreht er seinen Kopf in unsere Richtung. Dreck!!! Der Wind kommt von hinten!!! Der Geruch unserer Körper tanzt auf den Schwingen des Windes und wird direkt zu diesem gefährlichen Raubtier getragen. Der Tiger blickt nun in unsere Richtung. Du kannst sehen, wie seine Augen die Büsche fixieren, hinter denen wir uns verstecken. In diesem Moment spannen sich seine Muskeln und er sprintet in unsere Richtung los.
Guter Rat ist teuer und ein sicheres Versteck nicht allzu nah. Kämpfen hat gegen so eine Naturgewalt keinen Sinn und da sich der Tiger wohl für eine Debatte zum friedlichen Umgang zwischen den Arten nicht erwärmen lassen wird, nehmen wir Reißaus. Unsere Gruppe läuft auf eine Rettung versprechende Felsennische zu. Diese ist nur leider ein gutes Stück weg. Jedem von uns ist klar, dass uns dieses zahnbewehrte Untier wahrscheinlich einholen wird, bevor wir das schützende Ziel erreichen. Was in diesem Fall passieren wird, braucht nicht viel Phantasie.
Um diese Situation zu überleben, ist es nicht notwendig der Schnellste zu sein, doch auf keinen Fall sollte man der Langsamste in der Gruppe sein. Den Letzten beißen nicht nur die Hunde. Auch Säbelzahntiger machen da keine Ausnahme. Auf einmal hat Ikpig einen Einfall. Da er nicht weiß, ob er nicht der Langsamste ist und damit Gefahr läuft zum Abendessen des Tigers zu werden, stellt er Ukbuk, der neben ihm läuft, das Bein. Dieser hat das überhaupt nicht erwartet, geht hart zu Boden, überschlägt sich mehrfach und fällt sofort weit hinter der Gruppe zurück. Damit ist klar, wer heute zur Beute des Tigers wird und damit auch, dass die anderen den Angriff überleben werden. Nun könnte man sagen: „Clever gelöst.“ Die Zielsetzung war „Überleben“. Der Erfolg, sein – und auch unser – Überleben, gibt Ikpig Recht. Oder? Das war ja ein Volltreffer! Kennzahl 100% erreicht! Check!

Aber... wars auch wertetechnisch sauber?
Bei der Rückkehr erfährt der Stamm vom Angriff. Im Stamm hätte jeder verstanden, wenn der Langsamste dem Tiger zum Opfern gefallen wäre. Das wäre traurig, aber letztlich der Lauf der Natur. So ist es immer gewesen. Nun kommt auf, dass Ikpig seinem Stammesbruder ein Bein gestellt hat. Ukbuk wäre vielleicht der Langsamste gewesen, doch nicht seine Fähigkeiten entschieden über sein Schicksal. Ikpig hat dies getan, so nachvollziehbar seine Gründe sein mögen.
Wie kann der Stamm nun reagieren? Beispielsweise könnte er die Tat tolerieren, weil Ikpig es so verkauft, dass er die anderen der Gruppe mit seiner Tat gerettet hat und da die Überlebenden vielleicht Dankbarkeit dafür empfinden noch zu leben, Ikpig sogar unterstützen. Dass jeder von ihnen ebenso dieser Tat zum Opfer hätte fallen können, ist ihnen womöglich noch nicht bewusst oder sie verdrängen es. Gut, gehen wir einfach einmal davon aus, das Stammesoberhaupt entschließt sich dazu keine Konsequenzen zu setzen, mit einem quasi österreichischen: „Interessante Strategie, Ikpig. Passt schon.“
Wenn man „wertlose“ Handlungen toleriert,…
Ein paar Tage später geht wieder eine Gruppe Wasser holen. Wir zwei sind ebenfalls wieder dabei. Wir gehen in eine andere Richtung weg, in der wir uns noch sicher fühlen. Es müssen gar nicht die gleichen Leute sein wie beim letzten Mal. Es waren aber alle von uns in jedem Fall bei der Besprechung nach dem letzten Angriff dabei.
Der Säbelzahntiger hat, von neuem Hunger beseelt, schon auf uns gewartet und attackiert die Gruppe. Immerhin hat Ukbuk äußerst gut gemundet und zudem ist es ein großer Bonus, dass diese Menschentiere so nett sind und sogar ein Exemplar liegenlassen, damit der Säbelzahntiger sich nicht zu sehr mit Laufen verausgaben muss. Kein anderes Tier hat jemals so etwas getan.
Als wir dieses Mal weglaufen, haben einige von uns sofort das Bild von jemanden, der ihnen ein Bein stellt, vor Augen – schließlich wurde es bei Ukbuk toleriert. Aus Angst selbst davon getroffen zu werden, weichen einige von uns abrupt auseinander und blicken sich ängstlich nach den anderen um.
Algita, einer der schnellsten Läufer des Stammes, hakt dadurch bei einem Ast am Boden ein und bricht sich beim Sturz das Bein. Impetka erschrickt von der plötzlichen seitlichen Bewegung von Algita, die er im Augenwinkel sieht. Er dachte, Algita versucht ihm das Bein zu stellen, da in seinem Kopf natürlich auch diese Angst seit jenem Tag zumindest semi-bewusst verankert ist. Impetka weicht aus Angst davor das Bein gestellt zu bekommen zu stark von seinem Freund zurück, streift einen Busch, gerät aus dem Gleichgewicht und stürzt ebenfalls.
Zum großen Glück für uns andere, ist es nur ein einzelner Tiger, der sich zuerst Impetka schnappt und dann in aller Seelenruhe Algita von den Schmerzen seines gebrochenen Beines erlöst. Wir anderen retten uns in den Wald. Das war nun nicht mehr schwer, nachdem der Tiger zwei Opfer hatte, um die er sich kümmern musste.
Ursprünglich wurden wir zwar von einem Tiger angegriffen, doch ab dem Moment des Angriffs sahen wir auch in unseren „Verbündeten“ potentielle Feinde. Wenn man das Beinstellen toleriert, was hindert den Nebenmann daran uns das Gleiche anzutun? Was bedeutet es, wenn „operative“ Ziele die Oberhoheit übernehmen und Werte diesen untergeordnet werden?
Es bedeutet in letzter Konsequenz, dass in einer Notsituation nur das eigene, unmittelbare Wohl zählt und alles erlaubt ist, dieses zu bewahren – selbst die anderen in der Gemeinschaft zu opfern. Inwiefern man hier von einer Gemeinschaft sprechen kann? Das zu bewerten überlasse ich dir. Du wirst dir denken können, wie ich das sehe.
Und übrigens… keiner der Stammesmitglieder, die beim zweiten Mal angegriffen wurden, hätte jemand anderem das Bein gestellt. Niemand hatte das vor – auch wir zwei nicht. Unsere Werte waren alle vollkommen rein. Es reicht jedoch alleine das Bild im Kopf, dass es jemand tun könnte – ein kleiner Riss im Vertrauen – und das WIR zerspringt, wenn der Druck bzw. die Angst zu groß werden. Somit hat das wertlose Verhalten von Ikpig bereits mehrere Opfer gefordert und Ikpig war hier gar nicht mehr selbst dabei und niemand der Anwesenden ist wertetechnisch schwach. Wie es Ikpig geht? Gut. Der war ja beim zweiten Angriff gar nicht dabei und wird – vermutlich sogar authentisch – ganz bekümmert sein, dass zwei seiner KammeradInnen gestorben sind. Zusammen sorgen wir zumindest dafür, dass im Hügelgrab auch die verlorenen Freunde vermerkt werden.

Ohne Werte geht der Fokus vom WIR ins ICH
Die Gruppe müsste geschlossen solche Wert-Verletzungen sanktionieren. Jemand, der die Gruppe und ihr Überleben derart gefährdet, kann nicht länger Teil der Gruppe sein. Viele alte Völker hätten Ikpig getötet oder verstoßen, sodass er gezwungen gewesen wäre, allein zurecht zu kommen. Andere Völker hätten dem Wertlosen ein Stigma verpasst, sodass jeder sehen kann, dass man dieser Person nicht trauen darf. Bestraft die Gemeinschaft so eine Handlung nicht im Kollektiv, dann ist die Führung gefordert. Bleibt diese ebenfalls untätig, trägt sie die Konsequenzen für den weiteren Zerfall der Werte, der damit bereits vorprogrammiert ist.
Wenn Werte wie Zusammenhalt, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Einsatzbereitschaft, etc. nicht auf hohem Niveau gelebt werden, dann verlieren menschliche Beziehungen (auch Teams/Organisationen) den allergrößten Teil ihrer Stärke und Möglichkeiten – sie zerfällt in egoistische Individuen. Es ist wie eine Mauer ohne Zement zwischen den Steinen. Sie wird schwach, anfällig für Druck. Menschen müssen sich dann immer mehrere Pläne überlegen, weil sie nicht auf die Leistung und Ehrlichkeit der anderen vertrauen können. Es läuft Energie in die eigene Absicherung. Sie werden argwöhnisch und fangen an einander zu misstrauen, Informationen vorzuenthalten, um anderen keinen Vorteil zu verschaffen, der sich gegen sie wenden könnte, usw. Die eigene Absicherung bindet viel der eigenen Energie und der Fokus geht vom Wir ins Ich – das Wir wird geschwächt bis hin zum Zerfall. Und wo prachtvoll die Verbindung von Menschen sein kann, so kummervoll ist es zu erfahren, wie es ist, wenn Großartiges in seine Einzelteile zerfällt.

Dank Werte zu Überfähigkeiten des WIR
Dabei bietet ein echtes Wir geniale Möglichkeiten. Wenn du ein echtes Wir mit 5 anderen Menschen hast, wir würden es wohl “echte Freundschaft” nennen, dann erweiterst du dich über diese anderen Menschen.
– Du kannst an mehreren Orten zugleich sein.
– Du verfügst über ein Vielfaches an Fähigkeiten und Kraft.
Wenn dich diese Menschen super gut kennen und wissen, dass du dich sehr für z.B. besondere Schals interessierst, dann werden ihnen – selbst wenn sie diese eigentlich nicht so interessant finden – besondere Schals (sofern du ausreichend vermitteln konntest, was diese ausmacht) auffallen, wenn sie durch die Welt marschieren. Du bekommst von ihnen Informationen, wo sie so etwas gesehen haben. Eventuell schenkt dir einer von ihnen sogar so einen. Du nutzt ihre Augen! Und sie nutzen deine, wenn du dich für ihre Bedürfnisse interessierst. Die Dinge, die dir besonders wichtig sind und die du besonders brauchst, werden auch in ihren Köpfen sein – sofern ihr eine so ehrliche und direkte Beziehung habt, dass dieser Austausch passiert. Und es ist dann nicht so, dass du den anderen sagst, sie sollen Ausschau halten. Wir reden einfach darüber, was den anderen beschäftigt, weil wir uns wichtig sind, weil wir füreinander da sein wollen, weil wir uns sympathisch sind, uns sehr schätzen – die Humangravitation einfach ihr Ding macht, super-salopp gesagt.
– Wir denken füreinander mit.
– Wir halten die Augen füreinander offen.
– Wir unterstützen uns mit unseren Fähigkeiten.
– Das Wir ist damit viel mehr als die Summe der Ichs.
Aber es muss ein echtes Wir sein. Dann wird es quasi zu einem emergenten Meta-Wesen. Je stärker und klarer wir unser Ich dafür befähigen starke Wirs bilden zu können, umso mehr wirkt die Humangravitation positiv auf unser Leben ein.
Ohne Werte können sich keine starken Gemeinschaften bilden,… und nichts anderes sind echte Beziehungen – egal ob es zwei Menschen sind oder tausende, wobei dies bei Menschen keine natürliche Größe für Beziehungen ist. Natürlich ist es auch ohne Wertebasis möglich sich zusammenzuschließen, um gemeinsam z.B. einen Job zu erledigen. Das ist dann eine Nutzen-Beziehung. Die ist für gewöhnlich halt etwas mühsam. Wenn es nur für kurze Dauer und mit wenigen Berührungspunkten ist, dann kann es dennoch gut ausgehen. Aber große Projekte, langjährige Zusammenarbeit auf hohem Niveau sind genauso unmöglich wie wirklich großartige, nährende Beziehungen.
Werte sind das Fundament für wirklich starke Beziehungen. Je mehr Werte ich habe, umso weniger Papier benötige ich für Verträge. Früher war ein Handschlag etwas wert. Wer würde heute noch wichtige Abmachungen mit Handschlag besiegeln? Aber stell dir vor, was für ein Wettbewerbsvorteil hinsichtlich Geschwindigkeit und Kosten das bedeuten würde.
Dieser Beitrag ist ein kleiner Teil eines Artikels zur Humangravitation, der hier in voller Länge gelesen werden kann.
https://letsken.com/read/1a117f67-201e-4a97-a0c9-f550a49bc986
